Nach unserem kleinen Abstecher zum „Show, don’t tell“ möchte ich heute mit meiner Reihe zu den Erzählperspektiven fortfahren und einen besonders im Bereich Young Adult wichtigen Erzähler beleuchten: den Ich-Erzähler.

Illustration einer Ratte von hinten

Der Erzähler als Krähe

Falls Sie die vorigen Teile dieser Reihe nicht gelesen haben, hier noch einmal zum Verständnis:

Stellen Sie sich den Erzähler als eine Krähe vor, die dem Leser die Geschichte übermittelt. Diese Krähe sitzt entweder ganz nah bei Ihren Protagonisten oder schwebt weit über der Szene und hat alles im Blick. Je nachdem, was sie von ihrem Standpunkt aus sehen und hören kann, fällt die Geschichte aus, die sie uns erzählt. Es handelt sich hier allerdings um eine ganz besondere Krähe, denn je nach Perspektive bekommt sie nicht nur mit, was die Personen in unserer Story tun, sondern auch was sie denken und fühlen. Und manchmal kann sie sogar in die Zukunft schauen. Eine Zauberkrähe, sozusagen.

Die Krähe als Figur im Roman

Bei der Ich-Perspektive zeigt uns die Krähe wahrlich ihre Zauberkräfte. Statt über dem Geschehen zu schweben, wie sie das bei der auktorialen Perspektive tut, oder, wie im Falle des drittpersonalen Erzählers, auf der Schulter des Protagonisten zu sitzen, schlüpft sie nun in den Kopf einer Figur hinein. Sie verschmilzt mit dieser Figur – Erzähler und Figur werden eins.

Dabei sitzt die Krähe in aller Regel im Kopf des Protagonisten der Geschichte, also der Person, um die sich das ganze Geschehen dreht. Und dieser Protagonist erzählt uns, wie der Name schon vermuten lässt, die Geschichte aus seiner Perspektive, indem er das Pronomen „ich“ verwendet.

Das kann dann zum Beispiel so aussehen:

„Louise!" Ich zucke zusammen, als die Stimme meines Großvaters über den Hof schallt, und lasse den Füller fallen. Viel zu schnell segelt er nach unten. Landet fünf Meter unter mir auf der sattgrünen Wiese. Ich fluche, stecke mir das Notizheft unter den Arm und balanciere mit meinen dreckigen Sneakern, die irgendwann einmal weiß gewesen sind, den dicken Ast entlang, bis meine freie Hand den Baumstamm erreicht.
(Auszug aus „Wie Wellen im Sturm“ von Alicia Zett)

Während die neutrale und häufig auch die allwissende Krähe die Figuren in einem Roman aus der Ferne betrachtet, schafft die Krähe als drittpersonaler Erzähler für uns Leser deutlich mehr Nähe zum Protagonisten. Beim Ich-Erzähler sind wir nun so nah dran, wie möglich. Die Leser erleben das Geschehen sowie die Gefühle und Gedanken der Figur eins zu eins mit, als wären sie selbst dabei. Und durch diese sehr große Nähe fällt ihnen die Identifikation mit der Figur besonders leicht. Das mag einer der Gründe sein, warum sich die Ich-Perspektive vor allem im Bereich Young Adult (YA) großer Beliebtheit erfreut.

 

Besonderheiten der Ich-Perspektive

Die Ich-Perspektive bringt einige Besonderheiten mit sich, die Sie beim Schreiben beachten müssen und auf die ich im Folgenden eingehen möchte.

Die Erzählstimme

Da Erzähler und Protagonist verschmelzen, gewinnt die Erzählstimme in dieser Perspektive stark an Bedeutung. Als Autor müssen Sie sich – mehr als bei den anderen Erzählweisen – stets daran erinnern, in der Stimme des Protagonisten zu sprechen, nicht in Ihrer eigenen. Wie sich Ihr Erzähler ausdrückt, hängt unter anderem von seinem Alter, seinem Bildungsgrad, der Herkunft (auch regional), seiner Weltanschauung und seinem Charakter ab. Auch die Gemütsverfassung zum jeweiligen Zeitpunkt fließt in die Erzählstimme mit ein: Je nachdem, ob sich Ihre Erzählerin gerade in der Sauna massieren lässt oder vor einem sechsköpfigen Monster davonläuft, wird das auf ihre Art der Berichterstattung abfärben.

Um Ihnen zu verdeutlichen, was ich meine, hier einmal die gleiche Szene von zwei unterschiedlichen Personen erzählt:

Die Frau kam mir irgendwie verdächtig vor. Ich beobachtete, wie sie weiter mit diesem Dings über dem Sand rummachte.

Die Frau verhielt sich verdächtig. Ich behielt sie weiter im Visier, während sie mit dem Metalldetektor den Strand nach einem mir unbekannten Gegenstand absuchte.

(Na? Hatten Sie beim Lesen Bilder vom jeweiligen Erzähler im Kopf? Können Sie erraten, an wen ich beim Schreiben gedacht habe? Hinterlassen Sie mir gerne einen Kommentar mit Ihren Vermutungen.)

Konkret bedeutet das für Sie: Wenn Sie einen Roman aus der Perspektive einer Blankeneser Villenbesitzerin schreiben wollen, selbst aber aus Kreuzberg kommen, müssen Sie mitunter sehr genau recherchieren, wie sich eine solche Person ausdrücken würde, um die Erzählstimme überzeugend schreiben zu können. Auf jeden Fall sollten Sie Testleser finden, die mit dieser Art Sprache vertraut sind.

Die eingeschränkte Sicht

Als Erzählerin kann die Krähe nur das wissen, was auch die Protagonistin weiß. Sie kann weder in die Köpfe anderer Charaktere hineinschauen noch die Flügel schwingen und den Ort wechseln. Ihre Sicht ist daher im Gegensatz zu den anderen Perspektiven stark eingeschränkt. Das kann, muss aber nicht zwingend von Nachteil sein. Unter Umständen erfordert es jedoch mehr Planung. Und Sie können als Autorin eben auch nur Szenen schreiben, in denen die Protagonistin anwesend ist.

Das bedeutet nicht, dass Sie überhaupt nicht darüber schreiben können, was andere Figuren denken oder was an anderen Orten passiert ist. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dieses vermeintliche Manko zu umgehen. Zum einen kann Ihr Protagonist Mutmaßungen anstellen, damit wir erfahren, was im Kopf einer anderen Figur vorgehen könnte. Und Ereignisse, die an anderen Orten stattfinden, kann sich Ihr Erzähler von anderen berichten lassen oder je nach Größe sogar im Fernsehen erfahren.

Schwierig wird es, wenn Ihre Protagonistin sterben soll. In aller Regel werden Ihre Leser nicht davon begeistert sein, wenn die Erzählerin plötzlich stirbt und eine andere Person die Geschichte weitererzählt. Die Protagonistin kann daher normalerweise nur ganz am Ende des Buches aus dem Leben (und aus dem Buch) scheiden – im letzten Satz.

Und zuletzt sollten Sie beachten, dass es durch die eingeschränkte Sicht schwierig werden kann, objektiv zu berichten. Denn jegliche Handlung wird nur durch die Brille der Gefühle und Erfahrungen Ihrer Protagonistin zu sehen sein. Die Berichterstattung in der Ich-Perspektive ist also von Natur aus sehr subjektiv.

Das Durchbrechen der 4. Wand

Wenn Sie sich das Geschehen in einem Buch als Theaterstück vorstellen, dann gibt es gewöhnlich drei Wände, die die Bühne umschließen. Die vierte Wand wäre die unsichtbare zwischen der Bühne und den Schauspielern. In der Regel tun Bühnenschauspieler (sowie auch die Figuren in Büchern) so, als gäbe es das Publikum nicht, als wären sie also von vier Wänden umgeben. Der Leser wiederum tut so, als sei er Teil der Geschichte und vergisst, wenn alles gut geht, dass er gerade auf dem Sofa sitzt und ein Buch liest.

Der Ich-Erzähler bietet nun aber mehr als andere Perspektiven die Möglichkeit, den Protagonisten direkt mit dem Leser sprechen zu lassen, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Wir sprechen dabei vom Durchbrechen der vierten Wand. Die Leserin wird sich dabei ihres Sofas und des Buches in ihrer Hand wieder bewusst und blickt zumindest vorübergehend von außen auf das Geschehen.
Das Durchbrechen der vierten Wand ist ein eher seltener Kunstgriff, wurde aber schon von so namhaften Autoren wie Herman Melville angewendet, der sein Buch „Moby Dick“ gleich mit den Worten beginnt: „Nennt mich Ismael.“

Echt, ich hab nicht darum gebeten, als Halbblut auf die Welt zu kommen. Wenn ihr das hier lest, weil ihr auch gern eins wärt, dann rate ich euch: Klappt das Buch ganz schnell zu.
(Auszug aus „Percy Jackson: Diebe im Olymp“ von Rick Riordan, übersetzt von Gabriele Haefs)

Der Erzähler ist nicht der Protagonist

Bei der Ich-Perspektive ist der Erzähler meist der Protagonist der Geschichte, der uns mit auf seine abenteuerliche Reise nimmt – meist, aber nicht immer. Ein wunderbares Beispiel dafür, dass es auch anders geht, sind die Sherlock-Holmes-Romane von Arthur Conan Doyle, die aus der Sicht von Sherlocks Freund und Assistenten Dr. Watson erzählt werden. Doyle hat die Verschiebung der gewohnten Perspektive aus gutem Grund gewählt. Denn stellen Sie sich einmal vor, wie es in Sherlocks Gehirn aussehen muss – ein Mann, der uns allen in seinen Gedankengängen ständig 30 Schritte voraus ist. Spräche er in seiner eigenen Erzählstimme zu uns, würden wir Normalsterblichen vermutlich wenig bis nichts verstehen. Außerdem weiß Sherlock die Lösung meist lange, bevor Watson überhaupt eine Idee in die richtige Richtung gekommen ist, und wir tappen daher mit Watson weiter im Dunkeln. Wüssten wir alles, was Holmes weiß, wären die Geschichten langweilig.

Und natürlich hält Sherlock deutlich zu viel von sich selbst. Keiner möchte einen Ich-Erzähler, der sich permanent selbst lobt und mit seinen Heldentaten prahlt. Ist Ihr Protagonist also besonders heldenhaft, wäre vielleicht zu überlegen, ob uns lieber, wie im Fall von Sherlock Holmes, ein anderer Erzähler von seinen großen Leistungen berichtet.

Aber auch wenn der Protagonist Ihrer Geschichte ein Antiheld ist, tun Sie ggf. gut daran, die Handlung von einer anderen, ihm nahestehenden Person erzählen zu lassen. Denn im Kopf eines unsympathischen, vielleicht sogar psychisch kranken Protagonisten wollen sich die wenigsten Leser aufhalten.

Sie sehen: Die Ich-Perspektive hat so einiges zu bieten. Beim nächsten Mal gehe ich näher auf die Vor- und Nachteile dieser Erzählweise ein. Und natürlich gibt es wieder die Geschichte mit der Leiche in der Kirche, diesmal durch Marita selbst erzählt.


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